Künstliche Intelligenz (KI) basiert auf Algorithmen, Handlungsvorschriften zur Lösung eines Problems. Jeder nutzt in seinem Alltag erfahrungsbasierte Algorithmen: Weint ein Kind, trösten wir es, brennt der Tannenbaum, rufen wir die Feuerwehr und beginnen das Feuer zu löschen. Je komplexer das Problem ist, desto umfangreicher ist der Lösungsalgorithmus. Die von Menschen programmierten Handlungsketten mit komplexen „Wenn-dann-Strängen“ wirken in allen Bereichen unseres Lebens. In der Medizin verbessert KI die Diagnostik, ermöglicht die Individualisierung von Behandlungsstrategien und ist auch der Schlüssel zu individualisierten Medikamenten.
Im Forum Zukunftsmedizin der Rheinischen Post trafen sich Ende November Experten aus den Bereichen Medizin, Pharmakologie, Theologie, Versicherung und Wirtschaft, um über KI in unserem Alltag und speziell in der Medizin zu diskutieren. Prof. Dr. Tim Greten, zugeschaltet aus den USA, erläuterte am Beispiel von COVID-19 das Verfahren der Impfstoffentwicklung. Erstmalig kommen bei der Impfung mRNA-Vakzine großflächig zum Einsatz. Dem Körper wird dabei ein „Bauplan“ für eine Immunantwort auf das Virus verabreicht. Dieses bereits bei der Entwicklung individualisierter Impfstoffe zur Krebsbehandlung erprobte Verfahren, wurde von der Firma Biontech auf das Corona-Virus adaptiert. Nur so war die schnelle Entwicklung der Vakzine möglich. Prof. Dr. Dirk Arnold ergänzte den Vortrag von Prof. Tim Greten mit dem Hinweis, dass der Bauplan eines Tumors wesentlich komplexer sei als der eines Virus. Dies sei ein weiterer Grund für die schnelle Adaption des Verfahrens und die Impfstoffentwicklung. Prof. Dr. Heiner Wedemeyer, der in das aktuelle Corona-Geschehen in seiner Klinik stark involviert ist, zeigte sich froh, dass es sich um einen mRNA-Impfstoff handelt, da er die kurz- und mittelfristigen Nebenwirkungen als eher gering einschätze. Wedemeyer wird im Januar berufsbedingt zu einem der ersten Impfprobanden zählen. Zum Thema Impfstoff-Sicherheit waren sich die Medizin-Experten Prof. Dr. Dirk Arnold, Prof. Dr. Heiner Wedemeyer, Prof. Dr. Norbert Frey und Thomas Rupp einig, dass die Boten-RNA nicht ins Erbgut eindringen und dieses verändern kann. Mit einer Wirksamkeit von 95 Prozent sei der mRNA-Impfstoff aus epidemiologischer Sicht in jedem Fall einer Corona-Erkrankung vorzuziehen.
Zentraler Schlüssel für KI-basierte Fortschritte in allen Bereichen des Lebens sind valide, strukturierte Daten. Gerade in der Medizin, davon sind PD Dr. Claus Richard Lattrich und Dr. Cornelius Wittal überzeugt, seien enorme Fortschritte vorstellbar. So seien Apps zur Erkennung einer Covid-19-Infektion mittels einer Stimmanalyse oder zum regelmäßigen Check verschiedenster Krankheitsverläufe schon in der Umsetzung. Doch es fehle oft an Datenmaterial für die Entwicklungsprozesse. Gerade die pharmazeutische Forschung erhalte zurzeit keinen Zugriff auf Daten der „forschenden Versorgung“. Die Experten sind sich einig, dass eine intensivere Aufklärung der Bevölkerung notwendig sei, damit vermehrt Daten, auch anonymisiert, zugunsten einer besseren medizinischen Versorgung bereitgestellt würden.
Folke Tedsen ist davon überzeugt, dass der Einsatz von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz Freiräume für Mediziner wie Versorger schafft. „Algorithmen helfen uns, die Effizienz in der Leistungserstattung zu erhöhen.“ Robotic Process Automation sei ein beispielhafter Ansatz zur Prozessautomatisierung, bei dem repetitive, manuelle, zeitintensive oder fehleranfällige Tätigkeiten durch sogenannte Softwareroboter erlernt und automatisiert ausgeführt werden. So könnten schon heute Befunde, Zahnstatus und Ergebnisse bildgebender Verfahren analysiert und zu Handlungsempfehlungen sowie Präventivmaßnahmen aufbereitet werden. Branchenkollege Dr. Hajo K. Hessabi berichtete aus seinem Berufsalltag, dass durch die Pandemie deutlich mehr Versicherte auf digitale Angebote, wie zum Beispiel die telemedizinische Beratung, zurückgreifen würden. Auch Coaching-Apps und Symptom-Checker kämen in der Breite der Bevölkerung an. Verkürzte Antwortzeiten durch vollautomatisierte Antragsprüfungsverfahren seien auch bei der DAK-Gesundheit gelebter Alltag.
Und doch hätten viele Menschen bei KI noch immer Vorbehalte, wie Thomas Rupp und Dr. Cornelius Wittal aus ihrer Praxiserfahrung zu berichten wussten. Da gäbe es die Angst vor Jobverlust durch Rationalisierung. Oder die Vorstellung von Datenkraken, die am Ende einen gläsernen Menschen aus uns machen wollten. Marcus Vitt gab zu bedenken, dass es immer der Mensch sein müsse, der die letzte Entscheidung fälle. Er sei es, der bewerten und interpretieren könne. Doch für die Auswertung von Massendaten seien Algorithmen das Mittel der Wahl. Marcus Vitt bezog sich hier auf das Beispiel Corona-Warn-App. Je mehr Menschen mitmachten, je offener mit den Daten umgegangen würde, desto besser und genauer sei dieses Warnsystem. Dies könne man am Beispiel Südkorea sehr gut beobachten. Zum Abbau der Ängste müssten Beziehungssysteme zwischen Menschen und Maschinen neu und besser erforscht sowie für die Bevölkerung übersetzt werden. Vitt ist davon überzeugt, dass wir uns die Möglichkeiten von Algorithmen und KI verdeutlichen müssten, damit die Gesellschaft auf vielschichtige Weise von dieser Technik profitieren könne. Dies unterstrich auch Dr. Silke Leonhard, gleichzeitig machte sie deutlich, dass immer dort, wo es um Beziehungssysteme ginge, das persönliche Gespräch unersetzlich sei.
Das Fazit von Prof. Dr. Heiner Greten fällt eindeutig aus:
„Ein längeres und vor allem ein gesünderes Leben wird ohne ‚personalisierte Medizin‘ nicht möglich sein. Dies bedeutet, dass die Analyse des menschlichen Erbgutes und als Folge auch die Entwicklung von therapeutischen Möglichkeiten für jeden Patienten ‚persönlich‘ sein wird. Gentherapie ist keine Behandlung der Zukunft mehr. Die moderne Krebsbehandlung, und nicht zuletzt die Entwicklung eines Corona-Impfstoffes, belegen diese Aussage. Der Patient von heute erfährt diese Aussagen und Ergebnisse täglich. Er muss sie verstehen und sich mit ihnen auseinandersetzen, um das Risiko einer Maßnahme bewerten zu können. Der Arzt – als Ratgeber und Empfehler des Patienten – sollte ihm dann um so mehr mit Sorgfalt und Zeit zur Verfügung stehen. Im Forum Zukunftsmedizin wurden an diesem Tag vieler dieser Entwicklungen diskutiert. Nicht nur von Ärzten, sondern von Sachverständigen und verantwortlichen Menschen über verschiedenste Berufsgruppen: Menschen, die Theologie lehren, Menschen, die im Versicherungswesen, in der Forschung oder in einer Bank tätig sind. Die Vielfältigkeit der Gäste prägte auch die Themenvielfalt: Künstliche Intelligenz, Nutzen von Algorithmen für die Fortschritte in der Medizin, Entwicklung neuer Behandlungsmethoden und Ausblicke für ein gesünderes Leben.“
Die Experten des Forum Zukunftsmedizin am 27. November 2020:
• Prof. Dr. Dirk Arnold, Chefarzt der Abteilung für Onkologie mit Sektion Hämatologie, Asklepios Klinik Altona, Hamburg
• Prof. Dr. Heiner Greten, Chairman des Herz-, Gefäß- und Diabeteszentrums an der Asklepios Klinik St. Georg, Hamburg
• Thomas Rupp, Geschäftsführender Direktor der Asklepios Klinik St. Georg
• Dr. Hajo Hessabi, stellvertretender Vorsitzender des Vorstands der DAK-Gesundheit
• Marcus Vitt, Vorstand DONNER & REUSCHEL Aktiengesellschaft
• Folke H. Tedsen, Prokurist und Abteilungsleiter des Leistungs- und Gesundheitsmanagements sowie des KundenServiceCenters der HanseMerkur
• Prof. Dr. Heiner Wedemeyer, Direktor der Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Endokrinologie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).
• Prof. Dr. Tim F. Greten M.D., Center for Cancer Research, National Cancer Institute, USA
• Dr. Silke Leonhard, Rektorin des Religionspädagogischen Instituts Loccum
• PD Dr. Claus Richard Lattrich, Head of Personalized Healthcare,
Roche Pharma AG
• Dr. Cornelius Wittal, Senior Communications Manager, Roche Pharma AG
• Prof. Dr. Norbert Frey, Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Pneumologie Universitätsklinikum Heidelberg
Durch die Diskussion führten:
• Pia Kemper, Initiatorin des Forums Zukunftsmedizin und Leiterin der Finanz- und Wirtschafts-EXTRAS der Rheinischen Post
• Christopher Peterka, Geschäftsführer gannaca GmbH, Prognosefuturist