Respekt, Disziplin und Beharrlichkeit

Mit diesen drei Tugenden könnten wir eine zweite Infektionswelle vermeiden.

 

Die aktuelle COVID-19 Pandemie ist ein außergewöhnlicher Stresstest für unser Gesundheitssystem und für unsere Gesellschaft. Es ist historisch einmalig, dass es Wissenschaftlern gelungen ist, innerhalb von nur fünf Monaten grundlegende Erkenntnisse zur Epidemiologie, zur Virologie und zu Behandlungsmöglichkeiten einer komplett neuen Virusinfektion zu gewinnen. Es gibt Hoffnung: Ein neues Medikament zur Hemmung der Virusvermehrung ist bereits zugelassen. Impfstoffe, die auf neuen Prinzipien beruhen, befinden sich in fortgeschrittenen klinischen Prüfungen. Doch noch ist es nicht soweit. Und darum gilt es, mit vereinten Kräften eine zweite Infektionswelle zu vermeiden. Basis dafür sind die Beharrlichkeit im Tragen einer Maske, die Disziplin, dieses über die kommenden Monate durchzuhalten und der Respekt, das Abstandsgebot zu waren. Der gelebte Alltag vieler sieht aktuell aber anders aus. Experten warnen: Die Pandemie ist noch nicht vorbei!

Fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse waren die Grundlage für die Handlungsempfehlungen der Politik. Kontinuierlich wurden diese, in Abstimmung zwischen Wissenschaftlern und Entscheidungsträgern, an das aktuelle Pandemiegeschehen angepasst. Doch die letzten Wochen haben auch gezeigt, dass COVID-19 in absehbarer Zeit nicht komplett aus Deutschland zu verbannen sein wird.
Darum steht zu befürchten, dass eine „zweite Infektionswelle“ mit hoher Wahrscheinlichkeit im Herbst auf uns zukommen wird. Daraus ergeben sich viele fundamentale Fragen, die Schulen, Kindergärten, Pflegeeinrichtungen, aber auch jedes Krankenhaus betreffen. Welche allgemeinen Vorsichtsmaßnahmen müssen bleiben? Wo können wir Risiken eingehen, ohne andere Patienten oder Mitarbeiter zu gefährden? Was ist überzogen, denn bereits jetzt treten viele Konfliktsituationen im Alltag auf. Prof. Dr. Heiner Wedemeyer, Direktor der Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Endokrinologie der Medizinischen Hochschule Hannover, zeigt dies an drei Beispielen aus seinem Klinikalltag:

Beispiel 2: Im Universitätsklinikum ist nach der teilweisen Lockerung der Besucherregel entschieden worden, dass pro Patient ein Besucher für eine Stunde täglich akzeptiert wird. Ein 74-jähriger Patient, dessen Familie mehr als 300 Kilometer entfernt vom Krankenhaus wohnt, fragt den Klinikdirektor während der Visite am Vormittag, ob ihn seine beiden Kinder und die Enkelkinder am Nachmittag für drei Stunden besuchen dürfen. Der Patient leidet an einer chronischen Erkrankung, für deren Behandlung er noch zwei weitere Wochen stationär behandelt werden muss. Der Patient ist in einem Zwei-Bett-Zimmer untergebracht. Ist in diesem Falle eine Ausnahme gerechtfertigt? Gehört zu einem nachhaltigen und menschlichen Behandlungskonzept nicht auch, dass der Patient optimale Unterstützung durch seine ganze Familie bekommt?

Beispiel 2: Bei einem anderen Patienten sind drei Angehörige ohne Mund-Nasen-Bedeckung im Raum. Einer der Beteiligten sitzt am Patientenbett. Der Aufforderung, dass alle Besucher sich und andere mit Alltagsmasken zu schützen haben, kommen sie nicht nach. Auch für den Hinweis auf bestehende Besucherregeln, die für das gesamte Universitätsklinikum gelten, haben die Angehörigen kein Verständnis und fordern lautstark ein, dass sie ein Recht hätten, den Patienten zu besuchen. Würde ihnen dieses verwehrt, plane man, sich an die Presse zu wenden. Nur nach längeren Gesprächen gelingt es, die Angehörigen davon zu überzeugen, den Besucherraum und das Universitätsklinikum zu verlassen. Im Anschluss gibt es über das Beschwerdemanagement der Universitätsklinik entsprechende Rückmeldungen, insgesamt bindet dieser Fall mehrere Ärzte für viele Stunden.

Beispiel 3: Ärztliche Mitarbeiter der Klinik melden sich kurzfristig ab, da der lokale Kindergarten eine Betreuung ihrer Kinder ablehnt. Die ärztliche Kollegin ist darum alleine zur Betreuung der Patienten auf einer Media Care Station eingeteilt. Diese kurzfristige Änderung des Dienstplanes erfordert die Abbestellung eines Ambulanz-Patienten. Bei diesem Patienten entsteht verständlicherweise Unmut, dass ein lang geplanter Termin verschoben werden muss. Dies wiederum führt zu Anrufen von allgemeinärztlichen Kollegen. Sowohl die Reorganisation der Abläufe im Krankenhaus als auch die Kommunikation mit Patienten und zuweisenden ärztlichen Kollegen binden weitere Ressourcen im Universitätsklinikum.

Diese drei Beispiele von Prof. Wedemeyer zeigen, wie sehr Prozessabläufe und die Arzt-/Patienteninteraktion in einer Universitätsklinik auch in Zeiten von niedrigen Infektionszahlen deutlich beeinträchtigt wird. „In Zukunft wird mehr Verständnis und gleichzeitig auch mehr Toleranz im Umgang miteinander immer wichtiger werden“, erklärt Prof. Wedemeyer. „Wir können nicht davon ausgehen, dass diese Pandemie bald beendet sein wird. Vielleicht wird sie länger dauern, als viele Sachverständige annehmen. Der sogenannte ‚klinische Alltag‘ fordert bereits jetzt von Patienten und Personal viel Toleranz. Diese Situation wird sich nicht so schnell ändern.“

Auch Prof. Dr. Christoph Schindler, verantwortlich für Klinische Studien und Arzneimittelforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover, beschreibt Veränderungen in seinem Berufsalltag durch COVID-19. Als Leiter einer großen Forschungseinheit berichtet er, dass es durch die SARS-CoV2-Pandemie zu Beeinträchtigungen, gegebenenfalls sogar zum Abbruch von Studien, kommen könne, die möglicherweise Nutzen für andere Patienten hätten.
Prof. Schindler beschreibt drei denkbaren Konstellationen:
Szenario 1: Ein Studienteilnehmer infiziert sich aufgrund der Teilnahme an einer klinischen Studie. Szenario 2: Ein Studienteilnehmer hat sich im Alltag infiziert und schleppt das Virus unbemerkt in ein bisher coronafreies Studienzentrum ein. Szenario 3: Ein Studienteilnehmer hat sich infiziert und aufgrund der Einnahme eines Studienmedikaments einen schwereren COVID-Krankheitsverlauf. Der Studienleiter hält das Risiko in Szenario 1 bei sorgfältiger Wahrung der besonderen Hygieneschutzmaßnahmen für relativ gut kontrollierbar, da für die Studienteilnehmer sowie das gesamte Personal eine generelle Maskenpflicht eingeführt wurde und regelmäßige Händedesinfektion verpflichtend ist. Ferner darf niemand das Studienzentrum betreten, der in den letzten zwei bis drei Tagen mögliche Corona-Krankheitssymptome wie Fieber, trockenen Husten, oder ausgeprägte Müdigkeit entwickelt hat.
Das Szenario 2, das „Einschleppen des Virus in das Institut“, birgt ein Risiko für das Studienzentrum. Prof. Schindler dazu: „Sollte sich Studienpersonal bei einem Studienteilnehmer infizieren, müsste nach Auftreten von Symptomen bei nur einem Teammitglied ein Großteil unseres gesamten Studienteams für zwei Wochen in Quarantäne gehen.“ Dies würde den Studienbetrieb am Studienzentrum womöglich für mehrere Wochen stark beeinträchtigen, schlimmstenfalls sogar komplett lahmlegen. Dieses Szenario gilt es, durch strikte Minimierung des Infektionsrisikos streng zu kontrollieren. Szenario 3, schwerer COVID-Verlauf aufgrund der Einnahme eines Studienmedikaments, muss sicher ausgeschlossen werden: „Besteht diese Gefahr, sollte die Studie derzeit gar nicht durchgeführt werden“, so Prof. Schindler.

Komplex: Entwicklung und Herstellung eines Impfstoffes
Auch die Medizinischen Hochschule Hannover beteiligt sich an der klinischen SARS-CoV2-Impfstoffentwicklung. „Wir führen derzeit insgesamt drei coronaspezifische Studienprojekte durch: Eine Phase-1 Erstanwendungsstudie eines neu entwickelten spezifischen Impfstoffs gegen SARS-CoV2 bei gesunden Probanden und zwei Phase-3 Studien mit dem gentechnologisch verbesserten Tuberkuloseimpfstoff VPM1002. Prof. Schindler weiß, dass die erfolgreiche Herstellung eines Impfstoffes von allen ersehnt wird, denn nur so kann die Pandemie gestoppt werden. Jeder potentielle Impfstoff muss drei Phasen der Testung durchlaufen:
In der Phase-I-Studie geht es vor allem darum, die Sicherheit und Verträglichkeit zu testen. Es können aber bereits in der frühen klinischen Entwicklung erste Rückschlüsse auf die Reaktogenität (Schmerz, Schwellung und Rötung an der Injektionsstelle sowie Allgemeinreaktionen wie Fieber, Krankheitsgefühl, etc.), Immunität und Effektivität des neuen Impfstoffs gezogen werden. „Ob die Strategie, einen spezifischen Impfstoff gegen SARS-CoV2 zu entwickeln, tatsächlich langfristig aufgeht, bleibt sicherlich noch abzuwarten. Das Virus könnte mutieren, sich also genetisch verändern, was dazu führen könnte, dass auch ein spezifischer Impfstoff gegen Corona SARS-CoV2 – wie z.B. auch der saisonale Grippeimpfstoffe immer wieder angepasst werden müsste, um wirksam zu bleiben“, erläutert Prof. Schindler den Entwicklungsprozess. Die Phase-2-Studie verfolgt die gleichen Ziele wie die der Phase-1, jedoch wird der Impfstoff an einer größeren Gruppe Freiwilliger (in der Regel weniger als 1.000) getestet.
In der darauffolgenden Phase-3-Studie wird vor allem die klinische Wirksamkeit des Impfstoffs an einer größeren Anzahl von Testpersonen untersucht. „Aktuell testen wir den ursprünglich gegen Tuberkulose entwickelten, am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie von Prof. Stefan H. E. Kaufmann gentechnologisch verbesserten Impfstoff VPM1002, der quasi wie ein Immunbooster die unspezifische Immunantwort des Körpers verbessern soll und somit im Falle einer Infektion mit dem neuen Coronavirus den klinischen Symptomverlauf, also vor allem Atemwegssymptome, deutlich abschwächen soll“, berichtet Prof. Schindler. Dieser unspezifische Immunisierungsansatz hat den Vorteil, dass dieser die körpereigene Abwehr nicht nur gegen SARS CoV2, sondern auch gegen andere Viren, wie u.a. auch gegen Grippeviren, verbessert.
Welcher Impfstoff Marktreife erlangen und langfristig erfolgreich sein und ob eine Impfstrategie die globale Coronapandemie beenden wird, und wenn ja, wie schnell, kann heute noch nicht mit Bestimmtheit abgeschätzt werden. Grundsätzlich jedoch gilt nach wie vor: Patienten, die aufgrund einer Grunderkrankung eine abgeschwächte oder medikamentös unterdrückte körpereigene Immunabwehr aufweisen, haben ein erhöhtes Risiko, sich mit dem SARS CoV2-Virus zu infizieren und erkranken gegebenenfalls auch schwerer. Das Risiko steigt ab 50-60 Jahren kontinuierlich an. Verschiedene Grunderkrankungen wie z. B. Herzkreislauferkrankungen, Diabetes, Erkrankungen des Atmungssystems, der Leber, der Niere, Krebserkrankungen oder Faktoren wie Adipositas und Rauchen scheinen das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf zu erhöhen. Darum gilt: Respekt, Disziplin und Beharrlichkeit, um eine zweite Infektionswelle zu vermeiden.

Haben Sie Fragen oder Anregungen?

Prof. Dr. Heiner Greten
Chairman Hanseatisches Herzzentrum
Asklepios Klinik St. Georg, Hamburg
h.greten@asklepios.com

Univ. Prof. Dr. Heiner Wedemeyer
Direktor der Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Endokrinologie Zentrum Innere Medizin
Medizinischen Hochschule Hannover
wedemeyer.heiner@mh-hannover.de



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